Amanda Palmer sammelt im Internet innert einem Tag 250’000 und innert eines Monats über eine Million US-Dollar – für ein Musikalbum, das noch gar nicht existiert, sondern erst im September ausgeliefert werden soll. Das erstaunt selbst mich ein wenig, der schon immer wusste, dass die behauptete «Gratiskultur im Internet» ein Mythos ist. Spätestens jetzt sollten es alle ahnen können: Das Internet erfordert von allen Teilnehmern am Musikmarkt ein radikales Umdenken – oder sie werden untergehen wie einst die Kutscher, die sich gegen das Aufkommen des Automobils wehrten. Wer es aber schafft, die Veränderungen zu antizipieren, kann weiterhin mit seiner Musik reich werden.
Leider ist die Schweizer Musikszene auch dem falschen Pfad, wie das aktuelle Statement des Vereins Musikschaffende Schweiz eindrücklich zeigt. Sie pochen auf ihrem «geistigen Eigentum» (obwohl es so etwas im Schweizer Recht gar nicht gibt) und argumentieren moralisch und aus einer Position der Angst heraus. So menschlich und nachvollziehbar das auch ist – es wird nicht gut enden, wenn sie so weitermachen. Das fände ich aber sehr schade. Darum hier ein paar Denkanstösse. Die Hoffnung, dass diese angenommen werden, statt sie als naiv, arrogant und besserwisserisch abzutun, ist zwar nicht allzu gross – aber mein Glauben in die Menschen ist beinahe unerschütterlich. Also…
Ich schlage vor, dass wir uns von den folgenden Vorstellungen verabschieden, statt uns an ihnen festzuhalten:
- Besitz: In der vergangenen Ära ging es um Besitz von Musik. Konsumenten kauften Musik, liehen sie aus, oder stahlen sie gar. Wer die Musik hören wollte, die ihm beliebte, musste sie besitzen. Heute ist der Besitz egal. Was heute zählt, ist die Sicherstellung des Zugangs, und zwar jederzeit und ubiquitär, also mit allerlei Geräten und wo immer man gerade ist. Ob die Musik nun lokal oder irgendwo im Netz bereitsteht, ist unerheblich.
- Datenträger: In der vergangenen Ära war die Musik mit einem Datenträger verbunden. Heute ist sie flüchtig, Teil einer privaten oder öffentlichen Cloud, sie wechselt dauernd das Trägermedium. Daher ist eine Abgabe auf Datenträger ein Anachronismus.
- Vorgesehene Verwendung: In der vergangenen Ära wurde vorgegeben, wie das Werk verwendet wird: Es wird im privaten Rahmen abgespielt. Heute haben wir viel mehr Verwendungsmöglichkeiten – Youtube ist voll von Beispielen, wie Musikstücke weiterverarbeitet werden. Es ist völlig unpraktikabel, dass für jede Weiterverwendung zuerst ein Gesuch bei der SUISA eingereicht werden muss, eines für eine öffentliche Aufführung, für ein Streaming oder ein Download-Angebot – und was ist, wenn eine öffentliche Aufführung gestreamt und zum Download angeboten wird? Wie sollen Jugendliche verstehen, was zu tun ist?
- Trennung zwischen Urheber und Rezipient: In der vergangenen Ära war klar ersichtlich, wer Kulturschaffender und wer Kulturkonsument war. Mit heutigen Geräten, Software und Publikationsmöglichkeiten ist jeder ein potenzieller Kulturschaffender, und Unzählige nutzen diese Möglichkeiten auch aktiv. Es wird geschrieben, gefilmt, fotografiert, programmiert, musiziert und kombiniert und alles veröffentlicht. Die Grenze verwischt, die Menschen begegnen sich auf Augenhöhe. Manche finden ein grösseres Publikum, andere nicht – aber wo soll da eine Grenze gezogen werden?
- Einzelstückverkauf: In der vergangenen Ära wurde Musik in Einzelstücken verkauft. Heute wird zu einem grossen Teil noch ein Kaufprozess imitiert. In Wahrheit handelt es sich aber um Spenden, denn das Werk ist umsonst oder zu einem Spottpreis aus Russland downloadbar. Wer «kauft», der will die Musiker unterstützen, damit sie kommende Projekte finanzieren können. Musik macht Freude, und wenn man etwas dafür spenden kann, dann umso mehr. Die Imitation eines Kaufprozesses ist ein Übergangsphänomen (so wie das Trittbrett bei den frühen Automobilen), das eigentlich nicht nötig wäre. Wichtig ist eine niederschwellige, bedienungsfreudliche Spendenmöglichkeit.
- Kontrolle der Verbreitung: In der vergangenen Ära hatten die Urheber bzw. die Verwerter die Kontrolle über die gesamte Verbreitung. Sie konnten zum Beispiel ein Werk in den einen Ländern früher als in anderen Ländern anbieten. Sie konnten gar mit Kartellen Hochpreisinseln bilden. Heute ist ihnen diese Kontrolle abhanden gekommen. An ihrer Stelle muss Vertrauen kommen – Vertrauen in die Musikliebhaber, dass diese die Arbeit honorieren werden. Vertrauen kann aber nicht installiert werden, sondern muss wachsen, in einem gegenseitigen Prozess. Amanda Palmer und viele andere haben dieses Vertrauen bereits gefunden.
- Geldfluss über Detailhandel und Verwerter zum Urheber: In der vergangenen Ära zahlte der Konsument dem Detailhändler, dieser dem Verwerter, und dieser entlöhnte die Urheber. Heute wollen die Musikliebhaber die Urheber möglichst ohne Umwege unterstützen. Über einen Bezahldienst fliesst das Geld im Idealfall direkt zu den Urhebern. Dieses Geld verwenden diese nicht nur für sich, sondern bezahlen damit auch die Produktion, das Marketing usw. – der Geldfluss hat sich umgedreht.
- Die Macht des Verwerters: In der vergangenen Ära hatte der Verwerter viel Macht. Er passte Künstler auf Zielgruppen an, bestimmte über Produktion und Marketing. Die volle Hoheit über ihr Werk zu haben konnten sich nicht viele Künstler leisten. Durch die Umdrehung der Geldflüsse gewinnt der Urheber die Macht über sein Werk zurück. Natürlich lässt er sich weiterhin von vielen Leuten unterstützen – aber im Zweifelsfall hat er die Möglichkeit, sein eigenes Ding durchzuziehen. Die bisherigen Verwerter werden zu Dienstleistungsanbietern für die Urheber.
Geschätzte Musikschaffende: Ihr habt die Wahl. Entweder führt ihr euren Kampf gegen den Wandel weiter. Dann solltet ihr euch aber nicht wundern, wenn euch eure Kunden abhanden kommen oder ihr sie gar gegen euch aufbringt. Oder ihr denkt darüber nach, wo euer Platz in dieser neuen Ära sein könnte. Das hättet ihr zwar schon vor zehn Jahren machen können, aber noch ist es nicht zu spät. Ich verstehe, dass dieser radikale Schritt ein sehr schwieriger ist. Ich wünsche euch von Herzen, dass er euch gelingt.