Das Phänomen Piratenpartei ist von aussen schwer zu verstehen. Während die Grünen sich aus der Umweltschutz-, der Frauen- und der Friedensbewegung heraus gebildet haben und diese Themen von Anfang an klar und verständlich waren, sind die Piraten schwerer fassbar. Sie schaffen es selber noch nicht, ihre Kernbotschaften verständlich auf den Punkt zu bringen. Selbst das Lesen der Parteiprogramme lässt jemanden, der die Kernanliegen nicht teilt, recht ratlos zurück, weil es auf ihn wie ein zusammenhangsloses Sammelsurium von Vorschlägen wirkt. Geht es um Interessenvertretung für Gratis-Downloader und Gamer? Geht es um Transparenz und Demokratie? Geht es um einen populistischen Protest gegen das Establishment? Viele Kommentatoren sind ratlos.
Es kann sein, dass die Piratenpartei Deutschland in diesen Bereichen gewisse Wähler abholt, weil die anderen Parteien so sträflich bürgerfern geworden sind. Die Piratenpartei lebt aber nicht in erster Linie von den Wählern, sondern von den Aktiven, den Engagierten. Die Frage soll deshalb lauten: Was bringt so viele (vormals vermeintlich politikverdrossene) Menschen dazu, so viel Zeit und Energie in das Projekt Piratenpartei zu stecken? Woraus schöpfen sie ihre Motivation? Wieso können sie es nicht in einer anderen Partei oder in einem Interessenverband tun? Und wieso können sie es nicht allgemeinverständlich erklären?
Hier kommt die Antwort: Weil sie, wie die Grünen damals, neue Kernideen haben, in der sie allen anderen Parteien fundamental widersprechen. Diese Kernideen haben zwar nicht so prägnante Bezeichnungen wie „Frieden“ oder „Umweltschutz“. Das bedeutet aber nicht, dass sie weniger bedeutend wären für die Menschheit. Es geht hier nicht um ein «Nischenthema» Internet. Es geht um zentrale gesellschaftliche Fragen. So zentral, dass sie für einen wachsenden Teil der Bevölkerung wichtiger werden als liberale, sozialdemokratische oder grüne Anliegen. Piraten wurden im Internet sozialisiert. Dies führt zu einem so anderen Kultur- und Gesellschaftsverständnis, dass sie oft die anderen Parteien nicht mehr verstehen. Darum können sich viele Piraten auch gar nicht vorstellen, sich in einer anderen Partei zu engagieren. Die Verständnislosigkeit ist also gegenseitig. Was für Piraten selbstverständlich ist, ist für Aussenstehende gänzlich unbekannt. Zu erkennen, wo genau diese Bruchlinien liegen, ist für beide Seiten genauso schwierig festzumachen, aber unabdingbar für eine gelingende Kommunikation.
Hier ist der Versuch, die drei wichtigsten Botschaften der Piraten herauszuschälen und auf den Punkt zu bringen:
1. Plattformneutralität
Zuerst war es bloss die Netzneutralität: Die Forderung, dass im Internet jedes Datenpaket gleich behandelt wird, egal woher es kommt, wohin es geht, und was es enthält. Es gibt keine Überholspur für Privilegierte und keine Diskriminierung von «unwichtigen», «unerwünschten» oder «unprofitablen» Daten – wer immer das dann bestimmen könnte.
Die Piraten haben erkannt, welche freiheitliche, demokratische Kraft die Einhaltung dieses Prinzips freisetzt, und wie es Wissen, Ideen und Kultur, und damit die Menschen, zur Entfaltung bringt. Deshalb weiten sie dieses Prinzip auf jegliche öffentliche Institutionen aus: Infrastrukturen, die Zugang und Teilhabe ermöglichen, müssen gestärkt und ausgebaut werden und gehören diskriminierungs-, überwachungs- und barrierefrei (bzw. so niederschwellig wie möglich) allen angeboten. Und mit «alle» sind auch wirklich alle Menschen gemeint – bedingungslos. Während die anderen Parteien die Informationsfreiheit hier und da beschränken, wollen die Piraten dieses Grundrecht nicht nur verteidigen, sondern zum Leitgedanken jeglicher Politik machen.
Wenn Piraten also «fahrscheinlosen öffentlichen Personennahverkehr», Ausländerstimmrecht und Wahlalter 0, freie Lehrmittel oder einen laizistischen Staat fordern, dann hat dies alles mit dieser Idee zu tun, allen Menschen eine neutrale Plattform zur Verfügung zu stellen. (Michael Seemann hat das noch etwas ausführlicher erklärt.)
2. Versöhnung mit dem Effizienzgewinn
Informatiker und Ingenieure befinden sich in einem moralischen Konflikt: Sie entwickeln Maschinen, die menschliche Arbeit überflüssig, also Menschen arbeitslos macht. Arbeitslosigkeit gilt in allen etablierten Parteien als eines der grossen Probleme, das auf jeden Fall bekämpft werden muss. Also sagt man der Effizienzsteigerung den Kampf an. Längst nicht mehr nur in der Landwirtschaft subventioniert man die Erhaltung ineffizienter Strukturen. Auch die Industrie ist voll davon erfasst worden. Der Erhalt des «Werkplatzes Schweiz» und seiner Arbeitsplätze wird von der Politik gerade zur Staatsaufgabe erklärt. Firmen, die ihre Effizienz steigern und dadurch Stellen streichen, wird der Vorwurf gemacht, sie würden ihre Verantwortung nicht wahrnehmen. Arbeit wird zur Beschäftigungstherapie. Technikfeindlichkeit und Fortschrittspessimismus nehmen Überhand.
Die Piraten können diese Sichtweisen nicht teilen. Sie streben eine Versöhnung der Gesellschaft mit dem Effizienzgewinn an. Der moralische Konflikt lässt sich auflösen, wenn die ganze Gesellschaft an den Fortschritten teilhaben kann. Die Wirtschaft soll die Aufgabe erhalten, die Menschen von der Arbeit möglichst zu befreien. Und der Staat, also die Allgemeinheit, soll dafür sorgen, dass Menschen ohne Erwerbsarbeit trotzdem auf ihre Rechnung kommen, und nicht marginalisiert und mit Brosamen abgespeist werden. Dies bedeutet die radikale Abkehr von der protestantischen Arbeitsmoral, die bis heute in den Schweizer Köpfen steckt. Diese war erfolgreich im Industriezeitalter, aber im Informationszeitalter steht sie im Weg. Die Volkswirtschaft benötigt Effizienz, nicht Vollbeschäftigung.
3. Emanzipation durch Selbstbestimmung
Was haben eine Frauenquote und ein Kopftuchverbot gemeinsam? Mit beiden Ideen wird versucht, Emanzipation zu erzwingen. Auch diese Idee ist im ganzen Politspektrum weit verbreitet. Gut kann man das bei der Argumentation gegen das bedingungslose Grundeinkommen beobachten: Links wie rechts behaupten, ohne Zwang zur Arbeit würden die Menschen lethargisch und würden sich selbst aufgeben. Feministinnen haben Angst, Frauen würden dann umso mehr die unbezahlte Care-Arbeit machen, Nationalisten haben Angst, jugendliche Ausländer würden nur noch herumhängen, und Sozialarbeiter und Gewerkschafter haben Angst, sie würden ihre Macht verlieren in der Emanzipationsindustrie. Emanzipation durch von oben verordneten Arbeitszwang, das ist ihr Rezept.
Piraten haben die Erfahrung gemacht, dass ganz ohne Zwang so grossartige Dinge wie Linux oder die Wikipedia entstehen. In der Piratenpartei sind die Nerds und Aussenseiter daran, sich selbst zu emanzipieren. Nicht, indem sie sich den Regeln unterwerfen und sich in der gesellschaftlichen Hierarchie nach oben arbeiten. Piraten denken nicht in Hierarchien, sondern in Netzwerken. Sie emanzipieren sich, indem sie sich ein eigenes, tragfähiges Netzwerk bauen. Indem die das machen, was sie für richtig halten, und nicht das, was von ihnen erwartet wird. Diese Emanzipation braucht keinen Zwang, keine Verbote und höchstens rudimentäre Regeln. Diese Emanzipation braucht Freiheit, Zugang zu Wissen, Möglichkeiten zur Teilhabe und Schutzräume durch Anonymität, als Dünger für einen Prozess, der von innen reift. Piraten wissen, dass Gras nicht schneller wächst, wenn man daran zieht.
Wenn Piraten also für ein Grundeinkommen und gegen einen Mindestlohn, für Sterbehilfe und Drogenlegalisierungs, für freie Ladenöffnungszeiten und gegen Videoüberwachung sind, dann hat dies damit zu tun, dass Piraten den Menschen das Vertrauen schenken, dass sie in der Regel selbstbestimmt über ihre Arbeits-, Beziehungs-, Lebens- und Sterbensverhältnisse entscheiden können.
Fazit
Die Piratenpartei ist viel mehr als ein Konglomerat von Populisten, Dilettanten und Wutbürgern. Auch wenn die drei hier umrissenen Botschaften vielleicht nur ein persönlich gefärbter Ausschnitt sind, so ist für mich unbestritten: Die Piraten haben ihre eigene, fundamental andere Sicht auf die Welt. Das ist ihr Antrieb, das ist ihre Kraft. Bloss wissen sie es allzu oft nicht in Worte zu fassen, und lassen die Menschen darum fragend bis ratlos zurück. Es ist aber bloss eine Frage der Zeit, bis das passende Vokabular gefunden wurde, das eine Kommunikation ermöglicht. Die Piratenpartei ist gekommen um zu bleiben, und sie wird die Politik verändern.